G.A.S.

Jürgen Pagel

G.A.S. – Gear Acquisition Syndrome

Wie immer bei längeren Blog-Beiträgen findest Du am Ende des Beitrages einen Link zum Download als PDF.

Du brauchst stets die neueste Kamera? Du hast sehnsüchtig auf die X-T5 oder die Sony A9III gewartet? Du hast deutlich mehr Stative zu Hause herumstehen oder liegen, als Du jemals brauchen wirst? Du nennst einen zwischenzeitlich unübersichtlichen Fundus an Objektiven Dein Eigen?

Dann „leidest“ Du am G.A.S., dem Gear Acquisition Syndrome. Kein Witz. Ich meine das sehr ernst, denn ich „litt“ auch darunter. Wobei der Begriff des Leidens es nicht wirklich trifft – höchstens was den Verlust wertvollen Geldes anbelangt.

Wikipedia schreibt dazu: „Als Gear Acquisition Syndrome wird seit 1994 insbesondere in Internetforen und in der Fachpresse für Kreativberufe – zumeist scherzhaft – das Kaufen, Sammeln oder Horten von Musikinstrumenten und Equipment aus den Bereichen Musikproduktion, Audiotechnik und Fotografie bezeichnet. Es wird unter anderem selbstironisch verwendet, um den Kauf von Geräten zu kommentieren, für die kein unmittelbarer Bedarf besteht. Ein ähnliches Phänomen, das den übermäßigen Erwerb von Upgrades meint, ist die sogenannte Upgraditis (in Anspielung auf das Suffix -itis für eine entzündliche Krankheit).“

Aktionen wie Black Friday, Black Friday Week oder Cyber-Monday fördern das G.A.S..
Da mutet ein Winter- oder Sommerschlussverkauf harmlos an. 

Bestes Beispiel ist die vor kurzem offerierte Sony A9III mit Global Shutter. Mal Hand aufs Herz, wer hatte schon mal mit Rolling Shutter zu tun? Du weißt nicht, was das ist? Dann hast Du damit auch noch keine Bekanntschaft gemacht. Der Rolling-Shutter-Effekt ist ein Lagefehler, der bei Fotos oder Videoaufnahmen bewegter Objekte auftreten kann.
Der Rolling-Shutter-Effekt tritt auf bei:
• Kameras mit Schlitzverschluss. Der Effekt tritt hierbei besonders deutlich zutage, wenn das Motiv mit einem Stroboskop beleuchtet wird.
• Digitalkameras mit Bildwandlern in CMOS-Sensor-Technik. Diese Sensoren lesen das Bild zeilen- oder spaltenweise aus. Dies dauert besonders bei professionellen Sensoren lange. Wenn betroffene (meist spiegellose) Systemkameras statt eines Schlitzverschlusses – aus Ermangelung eines solchen oder optional zur Geräuschreduktion – einen elektronischen Verschluss verwenden, ist dieser dementsprechend langsam – langsamer noch als der Schlitzverschluss. Probleme bereiten dann bereits bestimmte gebräuchliche Kunstlichtquellen und die Fotografie mit Blitz, die dann entweder überhaupt nicht oder nur mit einer langen, tagsüber gar unbrauchbaren Blitzsynchronzeit möglich ist. Bei Letzterem bieten allerdings mittlerweile fast alle Hersteller eine sogenannte Flimmerreduzierung an.
Der von Sony gepriesene Global Shutter vermeidet diese Effekte gänzlich. Wer allerdings keine Propeller und keine Sternschnuppen fotografiert, wird deswegen keine neue Sony benötigen. Obwohl ich häufiger Sport und Automotive fotografiere, hatte ich dabei diesen Effekt tatsächlich noch nie. Überhaupt ist die A9 auf Grund ihrer Specs v.a. für Sportfotografen gedacht. Der „normale“ Fotograf wird die meisten der Features nie nutzen können und wollen.
Wer seine Bilder sauber komponiert, sehr genau darauf achtet, was und wie er fotografiert, benötigt auch keine 40 oder mehr Megapixel (die bietet die neue Sony übrigens auch nicht). Hinsichtlich der Druckauflösung hatte ich schon mal einen Beitrag verfasst und dort zum Ausdruck gebracht, dass bis DIN A3 24 Megapixel vollkommen ausreichend sind.

Ist die Fujifilm X-T5 denn wirklich besser als die Fujifilm X-T4? Hier ein Vergleich:

Die Zahlen sprechen für sich – nämlich nahezu ausnahmslos für die X-T4 (in Blau dargestellt).


Ansonsten sind die Unterschiede eher marginal. Einzig bei der Objekterkennung hat der Autofokus der X-T5 die Nase vorn.


Wer überwiegend fotografiert und gelegentlich filmt, ist mit der X-T4 bestens bedient.

Die X-T4 gibt es bei Amazon mittlerweile neu für rd. 1.450 Euro. Die nicht mehr frische X-T5 kostet immerhin rd. 300 Euro mehr. Bei einem Espresso-Preis von 2,20 Euro sind das immerhin 136 Tassen Espresso – das reicht auf jeden Fall für einen Herzinfarkt erster Güte.


Für den Unterschied zwischen einer Sony A9III und einer Fujifilm X-T4 bekommt man – ohne die für Sony deutlich teureren Objektive zu berücksichtigen – schon einen gebrauchten Kleinwagen oder jede Menge anderes (nutzloses) Equipment => siehe G.A.S..


Stative – auch so ein Ding. So beträgt der Unterschied zwischen einem Aluminium- und einem Carbonstativ selten mehr als 200 Gramm. Dafür ist Letzteres auch dreimal so teuer.


Das 2021 von den Musikwissenschaftlern Jan-Peter Herbst und Jonas Menze veröffentlichte Buch Gear Acquisition Syndrome: Consumption of Instruments and Technology in Popular Music argumentiert, dass es sich um ein Phänomen handelt, das sich nicht im Kauf nicht notwendiger Apparate erschöpfe. Es stehe als Sammelbegriff für ein Spektrum musikspezifischer (fotografischer Anmerkung des Verfassers) Aneignung von Konsumgütern, die identitäts- und gemeinschaftsstiftend wirke und mit musikalisch-ästhetischer Praxis, dem Erlernen eines Instrumentes und dem kreativen Ausdruck der jeweiligen Genres verbunden sei. Die Autoren werteten 668 Fragebögen zu Motivation, Verbreitung, Instrumentengruppen und sozio-demographischer Verortung der Nutzerinnen und Nutzer aus. Zu den wichtigsten Motiven zählen laut der Studie das Erforschen neuer Klänge, Ausdruck, Nostalgie und das Experimentieren. Als weniger wichtig erwies sich die Rolle von prominenten Vorbildern. Sammeln erwies sich nicht als Hauptmotivation. Obwohl bei wenigen Befragten das Ansammeln neuer Geräte schwerer wog, nutzen alle das Equipment auch im Spiel. Zudem bestätigte die Studie das Bild eines männlich dominierten G.A.S-Diskurses.

Ich habe keinen Zweifel, dass sich das auch auf den Bereich der Fotografie 1:1 übertragen lässt.


Und für Fotografie gilt: Die Bilder werden selten, sehr selten besser.

Umso wichtiger ist es im Vorfeld, dass Du Dir eindeutig darüber im Klaren bist, was Du wirklich willst? Welches Genre willst Du bespielen? Wie oft wirst Du fotografieren? Ist die Fotografie Hobby, Nebenberuf oder Profession? In der sogenannten „Findungsphase“ wirst Du ein für die Verkaufsbranche dankbares Opfer werden, solange eine Unsicherheit hinsichtlich Deiner Zielsetzung besteht. Und gerade in dieser Phase tust Du gut daran, mit einfachsten Mitteln zu experimentieren und Dir das Geld lieber für den späteren Zeitpunkt des unumgänglichen Neukaufs aufzuheben.


Lass Dich von anderen Fotografen beraten, lese Fachzeitschriften, sei kreativ. „Spiele“ mit dem, was Du hast oder greife auf gebrauchte Artikel beispielsweise auf Ebay zurück. Jeden Tag steht jemand auf, der das Neueste haben will, um dann nach kurzer Zeit der Benutzung festzustellen, dass die Art und Weise der Fotografie nicht besser geworden ist.

Und noch ein Tipp: Außer als Sammler gibt es keinen Grund, eine Vielzahl an Kameras anzuhäufen. Und echte Sammler kaufen, nutzen die Kamera nicht, sondern heben sie in der Originalverpackung kühl und trocken gelagert auf. Manchmal lohnt sich das – wie bei der Fujifilm X100V, bei der eine Zeit lang regelrechte Mondpreise erzielt wurden. Selbst Gebrauchte wechselten für einen Zuschlag von bis zu 500 Euro den Besitzer bzw. die Besitzerin. Gleiches gilt für Objektive. Hier sind es aber v.a. die lichtstarken Modelle aus analogen Zeiten, die noch hervorragende Preise erzielen. Der Preisverfall von Modellen wie der X-T4, der X-T5 sowie einer Nikon Z6II oder Z7II ist entsprechend hoch. Eine Ausnahme stellt sicher die Nikon Z9 dar, die – 2021 erschienen – kaum 1.000 Euro unter Neupreis zu bekommen ist. Sie ist allerdings auch keineswegs eine „alte“ Kamera, sondern immer noch State Of The Art, auf Grund ihrer Größe und ihres Gewichts allerdings nichts für Einsteiger.


Wer also nur richtig gute Bilder machen möchte, kommt mit einer Fujifilm X-T3 oder gar einer X-T1 gut über die Runden. Ich fotografiere immer noch sehr gerne mit meiner Ur-Fuji X100 aus dem Jahre 2010 und ihren bescheidenen 12 Megapixel – die meisten Smartphones haben heutzutage deutlich mehr Megapixel. Dennoch ist das Fotografieren mit dieser kleinen, handlichen Kamera mit ihrem festverbauten 23mm f/2.0 Objektiv vollkommen anders als mit dem Smartphone. Und unschlagbar ist der Preis: 500-600 Euro für gebrauchte, ausgezeichnet bis gute Kameras sind zwar kein Schnäppchen, aber ein fairer Preis für ein Schmuckstück, das wie kaum ein anderes für die Streetphotography geeignet ist.


Fazit
Unterliege nicht dem G.A.S. – wahrscheinlich ist das sehr viel leichter gesagt, als getan. Ebenso wahrscheinlich muss jeder diese Erfahrung machen - sie ist wohl Teil des Lebenswerkes. Dennoch kenne Deine Grenzen. Wisse, dass neue Kameras die Bilder und Deine Art der Fotografie nicht besser machen. Auch wenn es zweifelsfrei Spaß macht, stets das neueste Equipment in den Händen zu halten, so bedarf es doch immer einer gewissen Einarbeitungszeit, die Du besser für die Fotografie selbst nutzen kannst.


©2023 Jürgen Pagel | Lichtwerk.Design


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